zhang61_CHANDAN KHANNAAFP via Getty Images_teslachina Chandan Khanna/AFP via Getty Images

Man sollte Chinas wirtschaftliche Erholung nicht abschreiben

SHANGHAI – Die nach Ende von Chinas Null-COVID-Politik weithin erwartete starke Konjunkturerholung ist ausgeblieben. Das ist weniger überraschend und einfacher zu verstehen als viele Beobachter zu denken scheinen.

Das Ende der COVID-19-bedingten Lockdowns sollte eine starke Welle aufgestauter Nachfrage freisetzen. Stattdessen ist die Gesamtnachfrage, die sich bereits vor der Pandemie verlangsamt hatte, zum vorherigen Trend zurückgekehrt. Obwohl die Chinesen mehr gereist sind, mehr soziale Kontakte pflegten und öfter essen gingen, sind die Konsumausgaben der privaten Haushalte nur im begrenzten Umfang gestiegen. Eine Erholung der Anlageinvestitionen blieb aus.

Von wenigen Ausnahmen wie dem Sektor für Fahrzeuge mit alternativem Antrieb (NEVs) abgesehen blieb die Wirtschaftsaktivität gedämpft. Infolgedessen fiel das Wachstum viel schwächer aus als erwartet. Obwohl das reale BIP-Wachstum im ersten Quartal 4,5 % erreichte, wird für das zweite Quartal eine Verlangsamung erwartet. Die Kerninflation fluktuiert um null, und der Erzeugerpreisindex liegt im negativen Bereich.

Doch dürfte diese Situation vorübergehende Umstände widerspiegeln. Insbesondere hat die neue Regierung, als sie im Frühjahr ihre Arbeit aufnahm, nicht sofort ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Stützung der postpandemischen Erholung eingeleitet.

Zwar hat die chinesische Regierung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres einige Maßnahmen umgesetzt, die darauf zielten, die Lage der Haushalte und Unternehmen zu verbessern. Doch gingen die Interventionen nicht weit genug. Das gilt insbesondere für den Immobiliensektor, auf den etwa 40 % von Chinas jährlichen Anlageinvestitionen entfallen. Markterwartungen, dass die Häuserpreise einbrechen dürften, drückten auf die Bilanzen der privaten Haushalte und schreckten vor neuen Eigenheimkäufen ab.

Die Finanzlage der Kommunen ist derweil sehr angespannt, und die verzinslichen Schulden der kommunalen Finanzierungsplattformen haben sich steil erhöht, was Investitionen in die Infrastruktur untergräbt. Während die Finanzlage des Unternehmenssektors etwas weniger angespannt ist, schlägt sich der Mangel an Zuversicht in den privaten Investitionen nieder. Im Verbund mit dem COVID-19-bedingten Rückgang von Beschäftigung und Löhnen macht dies unterstützende Maßnahmen eindeutig erforderlich.

Subscribe to PS Digital
PS_Digital_1333x1000_Intro-Offer1

Subscribe to PS Digital

Access every new PS commentary, our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – including Longer Reads, Insider Interviews, Big Picture/Big Question, and Say More – and the full PS archive.

Subscribe Now

Zum Glück ist ein Maßnahmenpaket zur Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung höchstwahrscheinlich schon auf dem Weg. Laut jüngsten Informationen der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission Chinas dürfte ein derartiges Paket u. a. auf eine Erhöhung der Löhne und die Unterstützung einkommensschwacher Haushalte zielende Maßnahmen umfassen, um den Konsum anzukurbeln.

Die Finanzierungsbeschränkungen für Bauträger könnten ebenfalls gelockert werden, um den Immobiliensektor wieder zu beleben. Die chinesische Notenbank steht anscheinend kurz davor, die Kreditzinsen weiter zu senken, um zu Kreditaufnahmen zu ermutigen. Und die Zentralregierung wird höchstwahrscheinlich partielle Umwandlungen kommunaler Schulden in Betracht ziehen oder die sogenannten „Policy Banks“ auffordern, zur Steigerung der Kaufkraft der Kommunen langfristige Kredite anzubieten.

Natürlich können die politischen Entscheider in China nicht allen negativen Einflüssen aus dem Weg gehen, denen die Wirtschaft ausgesetzt ist. Globale geopolitische Verschiebungen – insbesondere seine sich verschlechternde Beziehung zu den USA – werden Chinas wirtschaftliche Erholung kurzfristig zweifellos behindern. Doch was die mittel- bis langfristigen Auswirkungen sein werden, ist alles andere als klar. Es ist durchaus möglich, dass jenseits der kurzfristigen Erschütterungen langfristige Chancen auf China warten, das inmitten von Instabilität und Krisen traditionell floriert.

China hat bereits auf die wachsende Unsicherheit in seinem äußeren Umfeld reagiert, indem es seinen Zugriff auf strategische Ressourcen wie Energieträger und wichtige Mineralien ausgeweitet und abgesichert hat – sei es durch Stärkung seiner Partnerschaften mit den betreffenden Ländern oder durch Überwindung seiner Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten. Den Markt für seltene Erden dominiert China bereits.

Chinas strategisches Denken und wirtschaftliche Resilienz spiegeln sich zudem im schnellen Anstieg seiner NEV-Exporte in jüngster Zeit wider. Chinas Automobilhersteller erkannten im Gefolge der pandemiebedingten Erschütterungen und durch den Ukraine-Krieg ausgelösten geopolitischen Krise Chancen zur Steigerung ihrer NEV-Exporte in Regionen wie Europa, die bestrebt sind, ihre ökologische Wende voranzutreiben.

Die Erfolgsbilanz der chinesischen NEV-Branche spricht für sich. China hat 2021 Südkorea bei den Gesamtexporten von Autos überholt, und 2022 dann Deutschland. Es wird erwartet, dass China dieses Jahr vier Millionen Fahrzeuge – zu einem großen Teil NEVs – exportieren und Japan als weltgrößten Autoexporteur ablösen wird. Zugleich wird die Regierung, um die Akzeptanz von NEVs im eigenen Land zu steigern, die Erwerbssteuerbefreiung von NEVs um weitere vier Jahre verlängern.

Diese Erfolgsbilanz legt nahe, dass die von den USA ausgehenden Bemühungen zur Beschränkung von Mikrochip-Exporten nach China langfristig nur begrenzte Auswirkungen haben werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie China anspornen, seine Abhängigkeit von die USA und ihre Partner umfassenden Technologie-Lieferketten zu verringern – entweder durch Umstellung seiner Handelsbeziehungen oder durch Innovationen im eigenen Land.

Chinas dezentrale Wirtschaftsstruktur hilft dabei beträchtlich. Es steht zu erwarten, dass Ströme komplexer Technologieprodukte sich über dutzende von Städten verbreiten und dabei von tausenden von Firmen abgewickelt werden. Das können staatseigene Unternehmen, heimische private Firmen oder Gesellschaften im ausländischen Besitz sein.

Wenn in China eine Branche stark zu wachsen beginnt, neigen Investoren und Unternehmen dazu, sich in Scharen darauf zu stürzen. Das liegt nicht zuletzt an den Fördermaßnahmen und Subventionen, die die Kommunen dann vermutlich anbieten. Dies kann die Entwicklung der Branche deutlich beschleunigen, selbst wenn es sich um eine Branche mit technologischen Eintrittsschwellen handelt, die zu erreichen enorme Investitionen (und eine große Zahl qualifizierter Arbeitskräfte) erfordert. So wird Teslas geplante neue Megapack- (Batterie-) Fabrik in Shanghai Chinas NEV-Sektor einen weiteren Schub geben, ganz so, wie Teslas „Gigafactory“ das seit 2019 tut.

Natürlich können, wenn die technologische Eintrittsschwelle erst einmal überschritten ist, enorme Investitionen in neu florierende Branchen große Herausforderungen hervorrufen, nicht zuletzt eine übermäßige Kapitalbildung. Besonders leiden könnten dabei die Marktpioniere. Doch wie Chinas Photovoltaik-Branche gezeigt hat, können sich die Nachfragebedingungen stabilisieren oder verbessern, was den Sektor dann neu belebt. Anders ausgedrückt: Ein robustes Wirtschaftswachstum kann sich noch einstellen, auch wenn ein gesamtwirtschaftlicher Boom bisher auf sich warten lässt.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/51d6WIode