kisilowski10_Omar MarquesAnadolu via Getty Images_polandelection2023 Omar Marques/Anadolu via Getty Images

Wie Polen seine Demokratie zurückgewann

WARSCHAU – Auf der Suche nach dem Königsweg, der es den Menschen in Polen ermöglichte, sich dem globalen Trend zu widersetzen und ihre autoritär-populistische Regierung aus dem Amt zu vertreiben, haben Befürworter der Demokratie weltweit ihre Aufmerksamkeit auf die jüngsten Parlamentswahlen in Polen gerichtet. Eine genaue Untersuchung des Wahlkampfs im Vorfeld der Abstimmung im vergangenen Monat zeigt jedoch, dass der phänomenale Sieg der demokratischen Opposition durch ein unwahrscheinliches Zusammentreffen von fünf Schlüsselfaktoren ermöglicht wurde, die sich anderswo nicht so einfach wiederholen lassen.

Erstens spielte die Führung eine entscheidende Rolle. Das politische Comeback des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk, der von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident war, hat die Opposition neu belebt. Ähnlich wie US-Präsident Joe Biden und der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist Tusk ein erfahrener Insider, der einen autoritären Amtsinhaber erfolgreich herausgefordert hat.

Der Ballast aus Tusks jahrzehntelanger politischer Karriere wurde durch die Vorteile seiner großen Erfahrung mehr als aufgewogen. Wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump und der frühere brasilianische Präsident Jair Bolsonaro attackierte auch Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der abgewählten Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), seine Gegner unerbittlich, insbesondere seinen langjährigen Erzfeind Tusk.

Ein weniger bekannter Politiker ohne ein fest etabliertes Image in der Öffentlichkeit hätte den hartnäckigen Bemühungen der PiS möglicherweise nicht standgehalten, seinen Wahlkampf zu untergraben. Bei Tusk jedoch war diese Strategie nicht von Erfolg gekrönt. Mit der Zeit schien es der PiS an einer positiven Plattform zu fehlen, während Tusk begann, öffentliche Unterstützung zu gewinnen. Als die PiS im Mai versuchte, ein ungeheuerliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das Tusk von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen hätte, löste dies massive Proteste in Warschau aus, die von allen großen Oppositionsparteien unterstützt wurden. Kaczyńskis Angriffe auf Tusk wirkten zunehmend hysterisch und überreizt.

Zweitens: Da die Opposition nicht in einem Block, sondern mit drei Listen angetreten ist, könnte ihr Wahlerfolg als Widerlegung des Expertenkonsenses angesehen werden, dass sich demokratische Kräfte angesichts einer autoritären Bedrohung zusammenschließen müssen. Diese Interpretation übersieht jedoch die enge Zusammenarbeit zwischen den linken, liberalen und Mitte-Rechts-Gruppen, aus denen sich die Opposition zusammensetzt. Mit bemerkenswerter Disziplin und Einfallsreichtum ermöglichten es die Oppositionsparteien den Menschen in Polen, für Abgeordnete des Sejm (Unterhaus) in Mehrpersonenwahlkreisen, in denen das Verhältniswahlrecht gilt, nach ihrem Gewissen abzustimmen und sich zugleich bei den am selben Tag stattfindenden Senatswahlen, bei denen das relative Mehrheitswahlrecht gilt, zu vereinen, und so zwei Drittel der verfügbaren Sitze zu sichern.

Die Selbstbeherrschung und der kooperative Geist des linken Blocks waren besonders wichtig. Anders als amerikanische demokratische Sozialisten wie die Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez verzichteten Polens Progressive auf Äußerungen, die die PiS gegen die gesamte Opposition hätte verwenden können. Sie vermieden weitgehend Kritik am virulenten Rassismus der flüchtlingsfeindlichen Haltung der PiS und schwächten sogar ihre übliche Kritik an der katholischen Kirche ab. Für den Dritten Weg, den christdemokratischen Block der Opposition, der sich unermüdlich darauf konzentrierte, sozialkonservative Wähler aus dem PiS-Lager zurückzugewinnen, war diese Zurückhaltung förderlich. Für die linken Parteien ihrerseits war sie allerdings nicht von Vorteil. Sie hatten Mühe, sich von Tusks zentristischer Bürgerplattform abzuheben und schnitten schlechter ab als die anderen Oppositionsblöcke.

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Der dritte entscheidende Faktor war der singuläre Fokus der Opposition auf die demokratische Zukunft Polens. Politikwissenschaftler beklagen oft, dass Bürgerinnen und Bürger den autoritären Charakter von Parteien wie der PiS oft erst erkennen, wenn es zu spät ist. Die polnischen Oppositionsparteien arbeiteten hart daran, dieses Problem zu überwinden, und Tusk und andere führende Politiker betonten wiederholt die potenziellen Folgen des demokratischen Niedergangs für die gewöhnlichen Leute in Polen, insbesondere für junge Wähler. Ein Lied mit dem eingängigen Refrain „Freedom, I love and understand“ wurde zur inoffiziellen Pop-Hymne des Wahlkampfes.

Um die Folgen der Aushöhlung der Demokratie zu veranschaulichen, konzentrierte sich die Opposition in ihrer Kampagne auf die zunehmend verzweifelte Lage von Frauen, die nach dem 2020 durch das von der PiS vereinnahmte Verfassungsgericht erlassene Abtreibungsverbot mit Schwangerschaftskomplikationen konfrontiert sind. In den Wochen vor der Wahl traf der staatliche Mineralölkonzern Orlen dann die schlecht beratene Entscheidung, die Benzinpreise deutlich unter den Marktpreisen festzusetzen. Dies führte zu einer weit verbreiteten Knappheit, die Erinnerungen an die kommunistische Ära wachrief.

Das bringt uns zum vierten entscheidenden Faktor für den Triumph der polnischen Opposition: Der Sturz des Regimes wurde durch seine eigenen Fehler beschleunigt. Vor allem deckten unabhängige Medien nur einen Monat vor der Wahl ein massives Korruptionssystem im Außenministerium auf, bei dem es um den Verkauf von Zehntausenden von Schengen-Arbeitsvisa an Migranten aus Asien und Afrika ging. Der Skandal untergrub die Glaubwürdigkeit der rigorosen Anti-Einwanderungspolitik der PiS.

Paradoxerweise zahlte die PiS auch einen politischen Preis dafür, dass sie nicht zynisch genug war. Die relativ verantwortungsvolle Covid-19-Politik der Regierung und die Hilfe für ukrainische Flüchtlinge verprellten einen Teil ihrer konservativen nationalistischen Basis. Das Abtreibungsurteil von 2020 war in gewissem Sinne auch eine Frage des Prinzips. Wie Trump war auch Kaczyński Berichten zufolge besorgt über die Auswirkungen des weitreichenden Abtreibungsverbots durch das Verfassungsgericht auf die Wahlen, aber die PiS stellte letztlich ihr Bekenntnis zum katholischen Dogma über die politische Zweckdienlichkeit.

Und schließlich sind Experten zwar frustriert über die uneinheitlichen Reaktionen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten auf demokratische Rückschritte in Polen, Ungarn und der Türkei, doch die Wahlen in Polen zeigen, dass selbst sporadische Interventionen etwas bewirken können. Die Entscheidung der EU, mehr als 35 Milliarden Euro an Pandemie-Hilfsgeldern, die für Polen vorgesehen waren, zurückzuhalten, hat die PiS daran gehindert, Wählerinnen und Wählern staatliche Leistungen zukommen zu lassen. Zudem war diese Maßnahme ausgesprochen symbolisch und schürte Ängste vor einem möglichen Austritt Polens aus der EU, sollte die PiS an der Macht bleiben.

Die erfolgreichen Bemühungen, die Übernahme des unabhängigen, in amerikanischem Besitz befindlichen Senders TVN durch die PiS im Jahr 2021 zu verhindern, spielten ebenfalls eine entscheidende Rolle. Ohne das professionelle, ansprechende und weithin zugängliche Programm von TVN hätten wichtige Informationen über die Agenda der Opposition und die zahlreichen Skandale der PiS möglicherweise nicht genügend Wähler erreicht.

Polen ist zum Leuchtturm für andere demokratische Bewegungen geworden, die mit populistischen Regierungen konfrontiert sind. Dennoch ist sein Beispiel kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Das Zusammentreffen günstiger und einzigartiger Bedingungen, das die polnische Opposition zum Sieg geführt hat, unterstreicht die Hindernisse, mit denen prodemokratische Parteien konfrontiert sind, die in Systemen agieren, die auf die Amtsinhaber zugeschnitten wurden. Bis zu den letzten Tagen des Wahlkampfs schien es durchaus möglich, dass die PiS einen knappen Sieg erringen würde. Hätte sie sich durchgesetzt, wäre keiner der noch verbleibenden Wege des demokratischen Wettstreits mehr sicher gewesen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/28gYkcqde