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Chinas Energie-Dilemma

HONGKONG – Wie die Kriege in der Ukraine und in Gaza zeigen, sind Energiemärkte überaus anfällig gegenüber geopolitischen Entwicklungen. Gleichzeitig ist Energie die wichtigste Triebkraft des globalen geopolitischen Wettbewerbs – ein Aspekt, den Helen Thompson von der Universität Cambridge schon oft hervorgehoben hat. Die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

In den Vordergrund rückte der Zusammenhang zwischen Energie und Geopolitik während der industriellen Revolution. Die westlichen Länder machten sich Wind-, Kohle- und Dampfkraft zunutze, um ihre Produktivität sprunghaft zu steigern und einen nie dagewesenen Wohlstand zu erreichen, während sie gleichzeitig ferne Länder kolonisierten und sich deren Ressourcen aneigneten. Durch die Kontrolle über Energie konnte der Westen seine wirtschaftliche, politische, militärische und wissenschaftliche Vorherrschaft gegenüber der übrigen Welt festigen.

Seither läuft der geopolitische Wettbewerb im Wesentlichen auf einen Kampf um Humankapital und natürliche Ressourcen - insbesondere Energieressourcen - hinaus. Für Deutschland und Japan ging es im Zweiten Weltkrieg teilweise um die Sicherung lebenswichtiger Ölressourcen in Südosteuropa beziehungsweise Südostasien. Eine Reihe anderer Konflikte - von den beiden Golfkriegen bis zum aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine - können im weiteren Sinne als Energiekriege bezeichnet werden.

Energie ist auch eine tragende Säule der globalen Hegemonie der USA. Die Entdeckung von Ölvorkommen im 19. Jahrhundert trug dazu bei, Amerikas Aufstieg zur Industriemacht voranzutreiben. Die Schaffung des Petrodollar-Systems im Jahr 1973 – als die USA und Saudi-Arabien übereinkamen, Öl in Dollar zu bepreisen und zu handeln - war ein weiterer Pluspunkt hinsichtlich der weltweiten Vorherrschaft der USA. Und der im Jahr 2010 einsetzende Schiefergas-Boom hat Amerikas Vorherrschaft im Energiebereich zementiert.

Das alles bedeutet, dass Amerikas „exorbitantes Privileg” sogar noch größer ist als das anderer Reservewährungsländer. Die USA können nicht nur ihre Auslandsschulden in ihrer eigenen Währung bedienen, sondern auch alle ihre Importe, darunter auch Erdöl (obwohl sie selbst reichlich davon haben), in US-Dollar bezahlen. Andere Volkswirtschaften, die Reservewährungen ausgeben - wie China, die Eurozone und Japan - können dies bis zu einem gewissen Grad ebenfalls, doch müssen sie nach wie vor im Rahmen des Petrodollar-Systems operieren und bleiben große Ölimporteure.

Chinas Aufstieg hingegen hat ein Energiedilemma mit sich gebracht. Trotz enormer Kohlereserven war China im Energiebereich schon immer verwundbar – eine Schwäche, die deutlich wurde, als die USA 1950, während des Koreakriegs, ein Handelsembargo gegen China verhängten. In den Jahrzehnten des raschen Wachstums und der Industrialisierung ist es China gelungen, diese Schwäche zu umschiffen: seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 deckt China seinen rasch wachsenden Energiebedarf durch Importe. Doch der Klimawandel in Kombination mit den jüngsten geopolitischen Spannungen hat die Lage erheblich verkompliziert.

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Seit 2006 ist China der weltgrößte CO2-Emittent. Allerdings hat das Land im Laufe der Jahre seinen Energiemix schrittweise umgestellt. Zunächst, um die Umweltverschmutzung zu verringern, und in jüngerer Vergangenheit, um Netto-Null-Emissionsziele zu erreichen. Im Jahr 2016 stieg der chinesische Erdgasverbrauch sprunghaft an und 2021 legten die chinesischen Flüssiggaseinfuhren im Jahresvergleich um 15 Prozent zu, wodurch China zum weltgrößten LNG-Importeur wurde.

Erneuerbare Energieträger - wie Solar-, Wind-, Wasser- und Kernkraft - spielen in Chinas Energiemix ebenfalls eine immer wichtigere Rolle. Dies nicht nur aus Gründen der Umweltverträglichkeit, sondern auch, um die Energiesicherheit durch die Verringerung der Abhängigkeit von ausländischem Öl und Gas zu verbessern. Die Bemühungen um eine geographische Diversifizierung der Einfuhren fossiler Brennstoffe sind Ausdruck des chinesischen Bestrebens, seine Energiesicherheit zu verbessern - ein Gebot, das durch die Verschlechterung der Beziehungen zu den USA vordringlicher wurde.

Mittlerweile setzen die höheren Energiepreise China noch stärker unter Druck. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat China - wie auch Indien und andere Volkswirtschaften des globalen Südens – von starken Preisnachlässen für Energielieferungen aus Russland profitiert. Doch die weltweiten Energiepreise sind nach oben gegangen. Von Mai bis September letzten Jahres stiegen die Preise für Rohöl der Sorte West Texas Intermediate von 67,6 auf 90,8 Dollar pro Fass.

Obwohl die Ölpreise im Anschluss daran leicht zurückgingen, prognostiziert der jüngste „Statistical Review of World Energy“ von BP, dass die Energiepreise in diesem Jahr durchaus weiter steigen könnten. Tatsächlich kletterte der Preisindex für Erdgas-Futures zwischen 12. Dezember und 12. Januar von 2,1 auf 2,7. Dies ist zum Teil auf den eskalierenden Krieg in Gaza zurückzuführen.

Zu einem Zeitpunkt, da China mit Deflation zu kämpfen hat - in den letzten zwei Jahren fiel der Erzeugerpreisindex von 110 auf 97 und der Verbraucherpreisindex von 101,5 auf 99,7 – ist ein Anstieg der Energiepreise das Letzte, was das Land braucht. Die Kombination aus weltweit steigenden Energiepreisen und Deflation in China könnte Unternehmensgewinne schmälern, Investitionen schwächen und auch Chinas Handelspartner zu einer verstärkt protektionistischen Politik veranlassen. Die Europäische Kommission hat bereits eine Wettbewerbsuntersuchung wegen mutmaßlich wettbewerbsschädigender Subventionen für chinesische E-Autohersteller eingeleitet und damit die Voraussetzungen für mögliche „Anti-Subventions“-Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge geschaffen.

Die Abwertung des Renminbi könnte weiter Öl in das Feuer des Protektionismus gießen und bereits jetzt führt sie zu verstärkten Kapitalabflüssen. Im Laufe des letzten Jahres, als der Renminbi gegenüber dem Dollar von 6,7 auf 7,17 abwertete, sind (netto) 84,5 Milliarden Dollar aus den chinesischen Aktien- und Anleihemärkten abgeflossen -  um 44 Prozent mehr als im Vergleich zu 2022.

Unterdessen verlangsamt sich das BIP-Wachstum weiter. Da auch die übrige Weltwirtschaft um kräftiges Wachstum ringt, steigt das Risiko eines einsetzenden Teufelskreises, in dem die Verlangsamung des globalen Wachstums (und damit der Rückgang der weltweiten Nachfrage) Chinas eigene Talfahrt verschärft und das globale Wachstum weiter schwächt. Da höhere Energiepreise die Inflation weltweit anheizen, könnte in vielen Teilen der Welt eine Stagflation folgen.

China kann die weltweiten Energiepreise nicht im Alleingang senken, aber man kann der Deflation im eigenen Land entgegenwirken. Eine positive Dynamik hinsichtlich des inländischen und globalen Wachstums befindet sich durchaus in Reichweite. Nachdem China jahrelang einen konservativen makroökonomischen Kurs verfolgte, ist es nun an der Zeit, eine neue Runde der fiskalischen und monetären Expansion einzuleiten. Dies würde wesentlich zu einer Stärkung des Vertrauens - und der Investitionsbereitschaft - des privaten Sektors beitragen und so den deflationären Trend umkehren sowie das Wachstum in China und der übrigen Welt ankurbeln.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/PTcdEjDde