krueger72_Scott OlsonGetty Images_USsteel Scott Olson/Getty Images

Amerikas Stahlwahnsinn

WASHINGTON, DC – Ende letzten Jahres kündigte der japanische Stahlkonzern Nippon Steel an, er habe sich auf die Übernahme der US Steel Corporation für 14,1 Milliarden Dollar geeinigt – was ihn hinsichtlich der Kapazität zum zweitgrößten Stahlproduzenten der Welt machen würde. Nippon Steel erklärte sich bereit, weiterhin den Namen US Steel zu verwenden; dessen Konzernzentrale in Pittsburgh, Pennsylvania beizubehalten; alle Verträge mit gewerkschaftlich vertretenen Arbeitern anzuerkennen; und die Produktionsanlagen weiter zu betreiben – und technologisch aufzurüsten, um die Produktivität an das japanische Niveau anzunähern. Außerdem hat der japanische Konzern versprochen, keine bestehenden Produktionskapazitäten oder Arbeitsplätze nach Übersee zu verlagern. Dies sind sehr gute Bedingungen.

Allerdings traf die Ankündigung auf starken und parteiübergreifenden politischen Widerstand: Der republikanische Senator J.D. Vance meinte, der Deal laufe darauf hinaus, ein „entscheidendes Stück der industriellen amerikanischen Verteidigungsbasis“ für Cash an Ausländer „zu verschleudern“. Der demokratische Senator Joe Manchin nannte ihn eine „direkte Bedrohung“ für die nationale Sicherheit der USA. Und der demokratische Senator Sherrod Brown drängte US-Präsident Joe Biden, „alle Möglichkeiten“ zu untersuchen, „die amerikanische Stahlindustrie, die amerikanischen Stahlarbeiter sowie unsere nationale und wirtschaftliche Sicherheit zu schützen“.

Nun hat das Weiße Haus eine „ernsthafte Untersuchung“ der Vereinbarung angekündigt. Dazu gehört auch eine Überprüfung durch die US-Kommission für Auslandsinvestitionen in den Vereinigten Staaten (CFIUS), um zu bestimmen, ob sie mit den US-amerikanischen Sicherheitsinteressen in Einklang steht. Auch die Vereinigte Gewerkschaft der Stahlarbeiter hat sich gegen die Übernahme ausgesprochen.

Dieser ganze Widerstand ist völlig unverständlich – und nicht nur, weil der Gewerkschaft zugesagt wurde, die Arbeiter zu übernehmen und ihre Verträge anzuerkennen. Tatsächlich sollten sich die Politiker über die Vereinbarung freuen, da sie der US-Wirtschaft und ihren Arbeitnehmern weitreichende Vorteile bringt – und möglicherweise sogar der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik nützt.

Biden verfolgt drei große wirtschaftspolitische Ziele: die Anzahl „guter Arbeitsplätze“ zu erhöhen (unter anderem durch Förderung ausländischer Direktinvestitionen); die lokale Produktion in den USA zu stärken; und die Einführung moderner Technologien zu beschleunigen. Außerdem versucht er, mehr Handelsvolumen, insbesondere die Importe wichtiger Waren, an US-Verbündete zu vergeben – das so genannte friend-shoring. Die geplante Übernahme im Stahlbereich würde all diese Ziele erfüllen und könnte gleichzeitig den Zusammenhalt mit einem wichtigen US-Verbündeten stärken.

Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir etwas tiefer in das Thema einsteigen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die japanischen Stahlunternehmen viel weniger produktiv als die amerikanischen – darunter auch US Steel, das damals eine Ikone der amerikanischen Industrialisierung war. Aber in den Jahrzehnten danach hat die japanische Stahlindustrie rapide Fortschritte gemacht, und schon in den 1970ern war sie produktiver als die amerikanische. Unfähig, dem Kostendruck standzuhalten, haben die US-Hersteller lange Zeit Schutzzölle gefordert – und meist auch bekommen. Aber nicht einmal dieser Protektionismus konnte die Lücke schließen: Der amerikanische Stahlindustrie gehört zu den teuersten der Welt.

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Über die Jahre ist die Anzahl der Beschäftigten im US-Stahlsektor von über 180.000 (1987-1991) auf 87.100 (2010) und 83.200 (2022) zurückgegangen. Aber dafür ist nicht die ausländische Konkurrenz verantwortlich – immerhin haben sowohl die Herstellung als auch der Verbrauch amerikanischen Stahls in dieser Zeit zugenommen. Stattdessen liegen die sinkenden Beschäftigtenzahlen weitgehend an technologisch bedingten Produktivitätssteigerungen: Die Herstellung einer Tonne Stahl erfordert heute nur noch 1,5 Personenstunden (verglichen mit 10,1 in den 1980ern). Um bei derart massiven Produktivitätssteigerungen die Beschäftigung stabil zu halten, hätte mehr als doppelt so viel Stahl verbraucht werden müssen.

Eine wichtige Innovation – die auch von Nippon Steel verwendet wird – war der Elektrolichtbogenofen, der Schrott als Rohmaterial verwendet, elektrisch betrieben wird, bei Bedarf ausgeschaltet werden kann und nur wenig Arbeit erfordert. Aber US Steel betreibt immer noch teurere, ältere und arbeitsintensivere Hochöfen, die mit Eisenerz und Kohle bestückt werden.

Daher sind die Kosten für US Steel – sogar verglichen mit anderen amerikanischen Herstellern – besonders hoch. Bereits seit den 1970ern verliert der Konzern stetig nationale und globale Marktanteile: Er fiel vom achten Platz im Jahr 2008 auf den 27sten Platz im Jahr 2022 zurück – und war der am wenigsten profitable der großen US-Stahlhersteller.

Die Übernahme von US Steel durch Nippon Steel – und die damit verbundene technologische Aufrüstung – kann diesen Niedergang rückgängig machen. Glaubt man den vertraglichen Details, wird der Zusammenschluss höchstwahrscheinlich die Produktivität der US-Stahlindustrie erhöhen und so die Stahlpreise senken. Dadurch wird der Anreiz für Stahlimporte sinken, und die amerikanischen Hersteller von Waren wie Kühlschränken oder Autos können ihre Kosten senken und so wettbewerbsfähiger werden. All dies wird den Produktionssektor und die technologische Basis der USA stärken und gewährleisten, dass im Land auch weiterhin „gute Arbeitsplätze“ vorhanden sind und vielleicht sogar neu geschaffen werden.

Nicht viele große Vereinbarungen zwischen Konzernen stehen mit allen drei großen wirtschaftspolitischen Zielen Bidens in Einklang. Alle Amerikaner – einschließlich der Stahlarbeiter – sollten sich über diese Übernahme freuen. Sie bietet eine echte Gelegenheit, den Niedergang von US Steel rückgängig zu machen und die Aussichten der US-Stahlindustrie insgesamt zu verbessern. Die Alternative ist ernüchternd: Wird der Firmenkauf nicht genehmigt, wird die US-Stahlindustrie weiterhin von Schutzzöllen abhängig bleiben – und andere US-Industriebereiche werden weiter an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, da sie gezwungen sind, höhere Stahlpreise zu zahlen.

Außerdem werden es sich ausländische Akteure dann zweimal überlegen, in den USA produktive Investitionen zu tätigen. Wenn ein japanisches Unternehmen keine Produktionsstätten in Amerika besitzen darf – obwohl es moderne Technologien einführt sowie die Arbeiter und Anlagen weiter beschäftigt, ohne die nationale und wirtschaftliche Sicherheit der USA zu gefährden –, kann dann überhaupt eine ausländische Firma irgend etwas auf amerikanischem Boden produzieren?

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/EZasss0de