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Entwicklungsfinanzierung am Scheideweg

PARIS – Über zehn Jahre lang haben die US-Notenbank Federal Reserve und die Europäische Zentralbank die Weltwirtschaft angesichts einer Inflation unterhalb des Zielwertes mit Liquidität geflutet. Doch nun, da sie die Zinssätze anheben, um die Inflation wieder zu senken, ist der Kapitalzufluss an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen der unteren Kategorie zurückgegangen, da mehrere von ihnen durch höhere Preise aus dem Markt gedrängt werden. In mindestens 20 Ländern dieser Einkommenskategorie hat die Renditespanne bei Fremdwährungsanleihen im Vergleich zu US-Staatsanleihen die Schwelle von 10% überschritten.

Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds warnen indessen vor einer Welle an Schuldenkrisen und schätzen, dass fast 60% der ärmsten Länder der Welt in eine kritische Schuldensituation geraten oder diesbezüglich gefährdet sind. Für viele Beobachter sind solche Warnungen ein Beweis dafür, dass das Experiment fragilen Ländern (mit einem Rating von BB oder darunter) Zugang zum Kapitalmarkt zu verschaffen, beendet ist. Es war eine einmalige Sache, die ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren widerspiegelte – darunter die Initiative für hochverschuldete arme Länder, der Rohstoffboom der 2000er-Jahre, der massive Anstieg der chinesischen Kreditvergabe und die überschüssige Liquidität auf dem Markt –, die sich wahrscheinlich nicht wiederholen werden.

Dieser Auffassung zufolge ist der heutige Verlust des Marktzugangs eine Rückkehr zur Normalität, und ein gründlicher Schuldenabbau ist sinnvoll. Dies könnte zwar die künftige Kreditvergabe erschweren, doch das dürfte unerheblich sein, denn private Gläubiger werden wohl in den kommenden zehn Jahren nicht zurückkehren. In der Zwischenzeit wird es Aufgabe der öffentlichen Finanzwirtschaft sein, die Agenda für nachhaltige Entwicklung zu unterstützen – durch Zuschüsse, bilaterale Darlehen und Kredite zu Vorzugsbedingungen von multilateralen Entwicklungsbanken. Betrachten Sie dieses Szenario als Option A.

Option B würde das Problem beheben und nicht unter den Teppich kehren. Hierfür wären eine Beschleunigung ausgewählter Schuldenbereinigungsprozesse und Maßnahmen zur Förderung neuer Kreditflüsse erforderlich. Die meisten Entwicklungsländer würden dieses Szenario natürlich vorziehen. Die afrikanischen Länder südlich der Sahara haben sich den Marktzugang hart erarbeitet und wollen weiterhin Entwicklungsstrategien verfolgen, um in der globalen Wertschöpfungskette aufzusteigen. Aus diesem Grund haben viele von ihnen beschlossen, sich nicht am Schuldenmoratorium (Debt Service Suspension Initiative, DSSI) oder am neueren gemeinsamen Rahmen zum Umgang mit Schulden über die DSSI hinaus (Common Framework for debt treatment beyond the DSSI) der G20 zu beteiligen, selbst wenn sie aus dem Markt gedrängt wurden.

Es ist allgemein bekannt, dass der globale Kapitalmarkt für arme Länder nicht gut funktioniert. Er bewertet Risiken zu hoch und reagiert zu heftig auf Schocks. Und da Subsahara-Afrika sowohl Staatsschulden- als auch Rohstoffrisiken birgt, ist es besonders anfällig für die Volatilität der Kapitalmärkte. In Ermangelung eines afrikanischen Mario Draghi, der den Markt beruhigen könnte, wird Option B nicht einfach sein.

Aber schwierig heißt nicht unmöglich, und es gibt einige zusätzliche Argumente, die für diese Option sprechen. Zunächst einmal ist die durchschnittliche öffentliche Schuldenquote in Subsahara-Afrika seit 2019 um nur fünf Prozentpunkte (auf 55%) gestiegen, und seine Auslandsverschuldung hat sich lediglich um 1,5 Punkte (auf 37%) erhöht. Diese Werte scheinen zu niedrig zu sein, als dass man pauschal von Zahlungsunfähigkeit sprechen könnte. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, können die meisten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen nicht als „hoch verschuldet“ bezeichnet werden, zumindest nicht im Rahmen „angemessener“ Zinssätze.

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Das Problem ist natürlich, dass viele dieser Länder mit dem bekannten Schneeballeffekt konfrontiert sind, demzufolge sich hohe Zinsen und wachsende Schulden gegenseitig befeuern. Ebenso bekannt ist aber auch, dass ein Zinssatz, der unter der volkswirtschaftlichen Wachstumsrate liegt, genügt, damit ein Land zahlungsfähig bleibt. Im Fall der afrikanischen Länder südlich der Sahara läge ein sicherer Realzins bei etwa 4%. Und obwohl wir derzeit über diesem Schwellenwert liegen, sollte es nicht allzu schwierig sein, mit Hilfe von Gebern neue Anlagen mit Renditen unterhalb dieser Schwelle zu schaffen.

Zu diesem Zweck hat unser Finance for Development Lab ein Darlehensinstrument vorgeschlagen, das besser auf die Risikoprofile afrikanischer Länder südlich der Sahara abgestimmt ist und Garantien im Stil von Brady Bonds mit neueren Formen der Absicherung gegen Rohstoffschocks kombiniert. Mit diesen Assets würden Finanzierungszusagen in Höhe von rund 50 Milliarden US-Dollar viel dazu beitragen, afrikanischen Ländern angemessenen Schutz zu bieten.

Ohne einen solchen Schutz werden die meisten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die nicht in der Lage sind, marktbedingte Zinserhöhungen zu verkraften, wahrscheinlich zahlungsunfähig werden, da sich verschärfende Finanzierungsbedingungen weiter für Kapitalflucht und Abwertungen sorgen. Die Preissteigerungen bei Treibstoff, Lebensmitteln und Düngemitteln haben die Lage noch verschlimmert und das Risiko sozialer Unruhen wie in Sri Lanka erhöht. Der Refinanzierungsbedarf des Marktes ist zwar bereits hoch, wird aber erst 2024 seinen Höhepunkt erreichen. Das bedeutet, dass das Zeitfenster für die Entscheidung zwischen den Optionen A und B immer kleiner wird.

Wie Option B ist auch Option A mit Hürden verbunden, da der Pariser Club der wichtigsten staatlichen Gläubiger die Schuldenprobleme nicht mehr im Alleingang lösen kann. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass China in den kommenden Jahren neue Finanzmittel in nennenswertem Umfang bereitstellen wird.

Jede Option hätte sehr unterschiedliche Implikationen für den Rang (Seniorität) öffentlicher Mittel. Option A setzt voraus, dass öffentliche Schulden Vorrang vor Verbindlichkeiten gegenüber privaten Gläubigern haben, weil sie letztlich die einzige belastbare Finanzierungsquelle für Entwicklung sind. Option B setzt das Gegenteil voraus: Wenn Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf der Grundlage robusterer Märkte wachsen sollen, wird die Verbesserung des relativen Rangs von Kreditmarktschulden folglich dazu beitragen. Öffentliche Backstops als Schutz für den Krisenfall können die Kosten für Kredite aus dem privaten Sektor drastisch senken, aber nur unter der Voraussetzung, dass Verbindlichkeiten gegenüber privaten Gläubigern Vorrang genießen.

Ob sich Option A oder Option B durchsetzt, wird stark davon abhängen, welche notwendigen Voraussetzungen (Konditionalität) der IWF in den kommenden Monaten für seine Umschuldungsprogramme festlegt. Option B wird nur dann eine Außenseiterchance haben, wenn die Analyse der Schuldentragfähigkeit so reformiert wird, dass die Fähigkeit und Bereitschaft von Ländern zur Rückzahlung ihrer öffentlichen und privaten Schulden angemessen berücksichtigt wird. Geeignete Verbesserungsmechanismen werden sodann rasch geschaffen worden sein, um Abschwünge zu bewältigen und den Marktzugang wieder zu öffnen.

Beide Varianten sind mit einzigartigen Herausforderungen und langfristigen Konsequenzen verbunden. Doch Unentschlossenheit wäre die schlechteste aller möglichen Entscheidungen. Wenn die Staats- und Regierungschefs der G20 im November dieses Jahres zusammentreffen, um zu überprüfen, wie sich das Common Framework bewährt, müssen sie sich auch ernsthaft mit den alternativen Wegen befassen, die vor ihnen liegen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/ma7ri2Mde