hsieh2_ERIC BARADATAFP via Getty Images_worldbankbuildinglogo Eric Baradat/AFP via Getty Images

Die Notwendigkeit eines effektiven globalen Schuldenstillstands

Die Regierungen der G20 haben sich kürzlich darauf geeinigt, offizielle bilaterale Kreditrückzahlungen von 76 der ärmsten Länder der Welt bis Ende 2020 auszusetzen. Damit Schwellen- und Entwicklungsländer den wirtschaftlichen Schock von COVID-19 überstehen können, muss der Schuldenstopp jedoch auch alle privaten Gläubiger einschließen.

LONDON/NEW YORK/GENF – Angesichts der beispiellosen Wirtschaftskrise aufgrund der COVID-19-Pandemie haben Politiker wohlhabender Länder beschlossen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um ihre eigenen Volkswirtschaften vor dem Zusammenbruch zu retten. Doch angesichts einer noch tiefergehenden Krise im Rest der Welt haben dieselben Politiker – ähnlich der Reaktion von US-Präsident Herbert Hoover’s Regierung zu Beginn der Großen Depression - es dabei belassen zu sagen, dass nichts mehr getan werden kann. Das Ergebnis sind billionenschwere Rettungspakete für fortgeschrittene Volkswirtschaften und Krümel für alle anderen Länder.

Die Tragödie besteht nicht nur darin, dass die wirtschaftlichen Kosten von “sozialer Distanzierung” in Schwellenländern wahrscheinlich höher sein werden sondern auch darin, dass die enormen Rettungsbemühungen wohlhabender Ländern es ärmeren Ländern sehr viel schwerer machen, die Pandemie zu bekämpfen.

So waren Länder mit ausreichender Kreditaufnahmekapazität, wie die Vereinigten Staaten, in der Lage, riesige Beträge zu Minimalzinsen aufzunehmen. Diese Gelder stammen aber sowohl von Investoren aus Schwellenländern, die sichere Anlagen suchen, als auch von US-Investoren, die ihre Auslandsbeteiligungen liquidieren. Mit anderen Worten: Ein Teil der Finanzmittel, auf die die Vereinigten Staaten und andere fortgeschrittene Volkswirtschaften angewiesen sind, stammt aus Schwellenländern mit einem viel dringenderen Finanzbedarf. 

Es überrascht daher nicht, dass inzwischen mehr als 100 Länder den Internationalen Währungsfonds um finanzielle Unterstützung gebeten haben. Doch die dem IWF zur Verfügung stehenden Mittel reichen nicht aus. 

Die G20-Regierungen haben sich daher kürzlich darauf geeinigt, die Rückzahlungen offizieller bilateraler Kredite aus 76 der ärmsten Länder der Welt bis Ende 2020 auszusetzen. 

Eine wichtige Interessengruppe, die im G20-Plan jedoch fehlt, sind private Gläubiger, auf die bei Ländern mit mittlerem Einkommen, wie zum Beispiel Mexiko, ein Großteil der Staatsschulden entfällt. Ohne eine Beteiligung des Privatsektors könnte ein offizieller Schuldenerlass für Länder mit mittlerem Einkommen demnach einfach zur Bedienung privater Schulden verwendet werden. Es wäre sinnlos, wenn der offizielle Sektor die Schuldenlast ärmerer Länder mildert und dies dann zu einem Transfer an kommerzielle Gläubiger führt.

SPRING SALE: Save 40% on all new Digital or Digital Plus subscriptions
PS_Sales_Spring_1333x1000_V1

SPRING SALE: Save 40% on all new Digital or Digital Plus subscriptions

Subscribe now to gain greater access to Project Syndicate – including every commentary and our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – starting at just $49.99.

Subscribe Now

Alle privaten Gläubiger müssen sich an einem eventuellen Stillstand des Schuldendienstes gleichberechtigt beteiligen, sowohl aus grundsätzlichen Gründen der Fairness als auch zur Gewährleistung einer angemessenen Finanzierung der Schwellenländer. Zudem kann ihre Beteiligung nicht rein freiwillig sein. Wäre dies der Fall, würden die von den teilnehmenden Privatgläubigern gewährten Erleichterungen lediglich die Nicht-Teilnehmer subventionieren.

Darüber hinaus deuten Erfahrungen aus der Vergangenheit darauf hin, dass ein bedeutender Teil der privaten Gläubigern ihre Teilnahme verweigern könnte, insbesondere wenn ihre eigenen Bilanzen durch die Auswirkungen der Pandemie unter Druck geraten. Damit Schwellen- und Entwicklungsländer in der Lage sind, den COVID-19 Schock zu überstehen, ist es somit unerlässlich, dass der Stillstand alle privaten Gläubiger einschließt.

Wir schlagen vor, dass eine multilaterale Institution wie die Weltbank für jedes Land, welches einen vorübergehenden Schuldenerlass beantragt, eine zentrale Kreditfazilität einrichtet. Diese sollte es dem Land ermöglichen, seine ausstehenden Zinszahlungen zur Notfallfinanzierung für die Bekämpfung der Pandemie zu hinterlegen. In diesem Zeitraum anfallende Rückzahlungen würden zudem gestundet, sodass alle Schuldenzahlungen aufgeschoben werden könnten.

Eine multilaterale Institution sollte das Moratorium sowie die Fazilität jedes Landes überwachen, um sicherzustellen, dass die Zahlungen, die andernfalls an Gläubiger gegangen wären, nur für die Notfinanzierung zur Bekämpfung von COVID-19 verwendet werden. Sobald die globale Pandemie vorüber ist, würde das Land alle Mittel aus dieser Notfallfazilität zurückzahlen. 

In vielen Ländern enthält das nationale Recht bereits Doktrinen, die es erlauben, die Erfüllung eines Vertrags wegen völlig unvorhergesehener, unberechenbarer und unvermeidbarer Ereignisse auszusetzen. Das Völkerrecht erkennt seinerseits in einer Doktrin namens "Notwendigkeit" an, dass Staaten manchmal auf solche außergewöhnlichen Umstände reagieren müssen, selbst wenn dies eine Unterbrechung der normalen Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen bedeutet. 

COVID-19 erfüllt all diese Kriterien. Länder, die von der Pandemie schwer betroffen sind, müssen alle ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen einsetzen um sie zu bekämpfen. Weiterhin müssen sie diese Mittel aus verschiedenen Quellen beziehen - durch die Umleitung von Ausgaben, die für andere Investitionen vorgesehen waren, durch die Sicherung von Darlehen oder Zuschüssen von offiziellen Institutionen und durch die Umleitung von Geldern, die für den planmäßigen Schuldendienst bestimmt waren.

Länder, die diese Anpassungen vornehmen, handeln nicht nach eigenem Ermessen oder auf freiwilliger Basis, sondern im wahrsten Sinne des Wortes aus Notwendigkeit. Jeder, und insbesondere die G20, sollte diese Tatsache im Zusammenhang mit der Empfehlung eines vorübergehenden Stillstands bilateraler und kommerzieller Schuldenzahlungen öffentlich anerkennen.

Einige mögen nun befürchten, dass ein solches Moratorium den Markt für Staatsschulden zerstören wird. Solche Bedenken sollten allerdings durch die Tatsache gemildert werden, dass die COVID-19-Pandemie ein einmaliges Ereignis ist:  sie führt zur tiefsten globalen Rezession seit der Großen Depression, einer strengeren globalen Abschottung als während des Zweiten Weltkriegs und einer beispiellosen Geld- und Finanzpolitik in allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Sie hat zudem erstmalig zu einer Verschiebung der Olympischen Sommerspiele, die im Juli und August in Tokio stattfinden sollten, in Friedenszeiten geführt. 

Wenn das Internationale Olympische Komitee und Japan in der Lage waren, die diesjährigen Spiele zu verschieben, dann können die G20 sicherlich einen Rückzahlungsstopp für private Staatsschulden organisieren, um die Weltwirtschaft am Leben zu erhalten, bis bessere Zeiten kommen.

https://prosyn.org/hOdWtiPde